Die 60er
Bericht: So war es in den 60iger Jahren... (Klaus Locher; Realschulkonrektor a.D.)
Ich will versuchen, einen Einblick in das zu geben, was ich vorfand, als ich 1961 als junger Lehrer erstmals an die Realschule Schloss Wittgenstein kam.
Die Gebäude Schule und Internat waren damals wesentlich enger miteinander verbunden als heute. Der Schule standen nur die beiden Gebäudeteile links und rechts des Lehrerzimmers zur Verfügung. Wie heute auch waren im 2. Obergeschoss die Schüler aus den Klassen 5-7 untergebracht. Im 3. Obergeschoss befanden sich Lehrerwohnungen und Einzelzimmer. Lehrer wohnten auch im Schloss, im „Weißen Haus“, im „Roten Haus“ und im „Grauen Haus“. Es ist heute in Forstbesitz. Zwei „gelbe Häuser“ standen dort, wo heute die Schulneubauten stehen. Die Schüler der Klasse 8-10 wohnten im Schloss. Die Duschen lagen im Erdgeschoss des Schulbereiches. Eine Turnhalle wurde erst gebaut: der Sportunterricht fand im Sommer auf dem Sportplatz und im Winter in der Kapelle des Schlosses statt. Dort gab es auch den Pflichtunterricht im Fechten. Der einzige Fachraum war ein kombinierter Physik- und Chemiesaal dort, wo heute die Direktionszimmer sind. Außerdem gab es eine Skiwiese am großen Hang oberhalb der Reithalle und einen Springbrunnen dort, wo an der Zufahrt noch heute der „Hirsch“ liegt.
Lehrerkollegium Zum Kollegium gehörten damals 15 Lehrer. Sie waren überwiegend katholisch. Die meisten Lehrer waren ledig und fanden sich fröhlich vereint beim Mittag- oder Abendessen. Montags gab es ein „Lehrer-Fresspaket“ mit Butter, Brot und Aufschnitt als Frühstücksersatz für die ganze Woche. Jeden Donnerstag um 16.00 Uhr traf man sich zur Konferenz. Weil der Direktor der Realschule auch gleichzeitig Internatsleiter war, gestaltete sich die Zusammenarbeit von Schule und Internat sehr eng und erfolgreich.
Unterricht Die Realschule hatte damals knapp 300 Schüler. Mädchen waren noch nicht zugelassen. Als besonderes Angebot gab es für die Klassen 7 Latein, Mathematisches Zeichnen oder Französisch und Fechten statt Sport. Schüler mit schwachen Leistungen besuchten Förderkurse in Deutsch, Mathematik oder Englisch. Die Klassenlehrer sollten in ihren Gruppen möglichst viele Fächer selbst unterrichten. So „belästigte“ ich meine Klasse 7 in Deutsch, Englisch, Latein, Geschichte, Erdkunde und Sport. Nachmittags traf ich sie als Erzieher im Internat wieder. Einmal im Jahr fanden Schlossfestspiele statt. Jede Klasse stellte dabei ihr Können im Zeichnen, im Gesang und beim Sport unter Beweis. Höhepunkte waren die jeweils 20minütigen Theateraufführungen der verschiedenen Klassen. Teilweise hatte das Spiel recht hohes Niveau. Der Siegerklasse winkte eine eintägige Schulfahrt.
Schüler Die Schüler kamen überwiegend aus dem Rhein- und Ruhrgebiet. Weil es in Nordrhein-Westfalen damals nicht überall Realschulen gab, handelte es sich sehr oft um Söhne von Landärzten, Pfarrern, Förderern oder kleinen und mittleren Unternehmern.
Internat Der Internatsbetrieb unterschied sich ganz wesentlich von seiner Form heute: Zunächst einmal durften die Schüler – abgesehen von den Ferien – nur alle sechs Wochen nach Hause fahren. Für die Erzieher damals war das eine erhebliche Belastung. Im Gegensatz zu ihren Kollegen heute hatten sie täglich Weckdienst, umschichtig Nachtdienst und den vollen Wochendienst zu leisten. Je mehr Erzieher es gab, desto weniger Freizeit hatte der einzelne. Das klingt paradox, ist aber einfach zu erklären: weil ein Erzieher abwechselnd immer einen Tag frei hatte, gab es bei 12 Erziehern nur jeden 12., bei 8 Erziehern jeden 8. Tag frei.
Die Schüler der Klassen 5-7 traten vor den Mahlzeiten vor der Schule an und marschierten mit einem flotten Lied zur „Fütterung“. Vor dem Speisesaal stellten sich alle auf und gingen klassenweise geordnet in den Speisesaal. Nach einem Gebet gab der Dienst habende Erzieher das Zeichen zum Beginn. Selbstbedienung war nicht möglich. Die Schüsseln standen auf den Tischen. War eine leer, wurde sie hoch gehoben, und ein Küchenmädchen tänzelte heran und wechselte sie gegen eine volle. Während des Essens herrschte Schweigen!
Am Samstagnachmittag erhielten die Eleven eine Stunde „Anstandsunterricht“.
Schüler, die im Laufe der vorangegangenen Woche in Schule oder Internat eine „Untat“ begangen hatten, mussten montags um 14.00 Uhr im Sonntagsanzug und mit Schlips vor dem Direktor erscheinen, um sich ihre Strafe abzuholen.
Eine große Rolle im Internatsleben spielte „Schwester Ida“. Sie war Partner bedrängter Schüler, Versorgungsstation und Schlichterin. Sie entschied, wer den Vormittag statt in der Klasse auf dem Krankenrevier verbringen durfte. Ein Schüler – heute ist er Rechtsanwalt – verstand es hervorragend, mit viel Charme aus Ida Extraportionen herauszukitzeln, wenn ihm das Essen mal nicht schmeckte.
Zu Beginn des Schuljahres 1962/63 geschah Sensationelles: 2 Mädchen tauchten auf. Sofort gab es einen Massenauflauf: 300 Jungen und 2 Mädchen! Am Ende des Schuljahres war der Spuk vorbei, das Experiment gescheitert.
Und dann war da noch die Sache mit den Frisuren. Wegen der seltenen Heimfahrten mussten die Schüler zu einem der damals 4 Friseure. Die Jungen bekamen kein Bargeld, sondern einen Gutschein. Einer der Coiffeure war wegen seines „konservativen“ Haarschnitts gefürchtet. Wer dort hin sollte, der versuchte gegen Aufgeld zu tauschen.
Einmal in der Woche war Stadtgang. Für die Grossen einzeln, für die Kleineren im Pulk mit einem Erzieher.
Nach der Schule ging es ins Silentium, in die Hausaufgabenbetreuung. Sie wurden zunächst selbständig angefertigt, dann vom Erzieher korrigiert. Das war möglich, weil jeder Erzieher nur Schüler aus derselben Klasse hatte. Dank der engen Zusammenarbeit von Schule und Internat, und weil eben alle im Internat waren, wurde am Nachmittag vor Klassenarbeiten der Stoff noch einmal durchgearbeitet.
Selbstverständlich kam es auch zu vielen Zwischenfällen und Streichen. Als etwa der Fürst noch im Schloss wohnte, beobachteten die Schüler, dass ein Diener stets zur selben Zeit das Frühstück brachte, dann eine bestimmte Weile für Vorbereitungen brauchte und das Mahl dann ins Zimmer schob. Das wurde ausgenutzt: man beraubte den Fürsten seines Frühstücks und verschwand unerkannt. Es gibt aber das Gerücht, der Rädelführer sei der Nachfahre eines Herrscherhauses aus dem Osten gewesen.
Der Sohn eines südamerikanischen Botschafters hatte die Angewohnheit, aus dem Fenster zu flüchten, wenn ihm etwas nicht gefiel.
Der Knabe wurde irgendwo zwischen Siegen und Bonn arretiert und Exzellenz verständigt. In der Staatskarosse kam der junge Mann zurück ins Internat.
Ein anderes Mal schwenkte derselbe Sprössling einen Zeitschriftenartikel und rief: „Mein Onkel ist in der Zeitung!“.Bei näherem Hinsehen war es ein Bericht über einen der üblichen Staatsstreiche. Der Onkel wurde erschossen. Kommentar des liebevollen Neffen: “Macht nichts, hab` noch mehr Onkels!“.
Am Ende war es eine Zeit der engen Zusammenarbeit von Schule und Internat und der Lehrer untereinander. Weil alle das Internat besuchten, bestand ein sehr persönliches Verhältnis zu den Schülern, da sie ihre Lehrer oft als Bezugspersonen sahen.